Race across France – Die Tour de France der Bikepacker 🥇

by Sara Hallbauer

„Möge der Wind Dich bis an die Mittelmeerküste tragen“ brüllt Arnaud, der Veranstalter des Race Across France, ins Mikrofon und gibt mir einen ordentlichen Klaps auf die Schulter. Es ist Samstag, der 18.6.2022, 18.48 Uhr: Ich rolle von der Bühne die steile Rampe auf die Promenade hinunter. „Arsch nach hinten, Arsch nach hinten!!“ denke ich mir nur. Denn meine größte Sorge ist nicht das Unterfangen, das vor mir liegt, sondern ein Sturz auf eben dieser Rampe. Blamage komplett, vor all den Leuten, nicht mal eine Sekunde nach dem Start. Doch es geht gut, die erste Hürde ist geschafft. Unter dem tosenden Applaus des Publikums, das hier in Le-Touquet-Paris-Plage, an der Côte d’Opal zusammengekommen ist, starte ich als eine von drei Frauen in mein nächstes Radl – Abenteuer: Das Race Across France (RAF).

Es geht in maximal 10 Tagen einmal durch Frankreich, von der Atlantikküste im Norden Frankreichs über 2.600 Kilometer und ca. 37.000 Höhenmeter über die Alpen ans Mittelmeer nach Mandelieu de Napoule. 

Die Fahrer können im Team oder alleine in den Kategorien Supported oder Unsupported starten und sich entscheiden, ob sie 300, 500, 1.000 oder 2.500 km fahren wollen.

Distanz: 2.600 km

Anstieg: 37.000 hm 

Höchster Punkt:
Col de l'Iseran (2.770 m)

Dauer:
9 Tage

Ich entscheide mich natürlich für die lange Route und breche alleine zu meiner eigenen Tour de France auf, zur Tour de France der Bikepacker! Wie immer unsupported natürlich, ein würdiger Nachfolger meines Nordkap Abenteuers aus dem letzten Jahr.

Mein Erfahrungsbericht

Race across France Tag 1: Appetite for Destruction 

Das Event hab ich mir passend zum Motto meines Blogs „Raus aus dem Windschatten, rein ins Abenteuer“ gut rausgesucht. Denn Windschatten Fahren ist beim RAF nicht erlaubt. Die Fahrer starten anstatt im Pulk nacheinander im Minutentakt, in der Reihenfolge ihrer Anmeldung

Mich packt das Rennfieber in der ersten Sekunde. Die Beine sind frisch, die Stimmung ist gut. Ich bin weit über meinem Schwellenwert. „Sara, das hier ist ein Marathon und kein Sprint“ denke ich mir noch. Doch ich kann nicht anders. Ich hab den ganzen Tag auf diesen Startschuss gewartet. Wer hat eigentlich beschlossen, so ein Event am Abend beginnen zu lassen? Ich als Morgenmensch bin noch nie eine Nacht komplett durchgeradelt. Wohl wissend, dass mir das Adrenalin keine Ruhe lassen wird, ist aber genau das mein Plan. Schauen wir also, wo mich das hinführen wird. Das hier wird ein „All in“ bzw. ein „All Out“ – soviel ist auf jeden Fall sicher. 

Atlantikküste: Wo der Wind immerzu rauscht

Ich fahre in der Abenddämmerung auf kleinen Strassen am Atlantik entlang. Edwyn Collin’s Beat ist Metronom und Taktgeber. Der Song treibt mich an und ohne Unterlass vorwärts: „Never met a girl like you“ dröhnt es auf Dauerschleife in meinen Ohren.

Regen, mein Dauer-Begleiter in dieser Saison 

Um halb 12 Uhr nachts setzt Niesel ein, der bald zu strömenden Regen wird. Wind weht ungemütlich vom Atlantik her. Ich kämpfe mich durch diese Midsommer Nacht, es vergeht Stunde um Stunde. Nach 227 Kilometern bin ich in Le Havre und fahre über die Brücke der Normandie, eine Schrägseilbrücke, die mit 856 m die größte Spannweite in Europa besitzt. Es wird langsam Zeit für eine Pause, doch ich steige nicht ab. Hier gibt es nirgendwo ein trockenes Plätzchen und ich möchte auf gar keinen Fall auskühlen. Da ist Omaha Beach. Bei der Vorstellung, was hier im zweiten Weltkrieg los war, wird mir schlecht.

Sonntag morgens in der Normandie, alles dicht

Ich hab die Nacht gut überstanden, nur wird es langsam Zeit für etwas Warmes. Es regnet immer noch. Dass die Versorgungslage hier suboptimal ist, wusste ich, aber dass hier weit und breit keine Boulangerie offen hat? So wird es halb 10 Uhr morgens bis ich endlich eine finde und die erste Pause mit Kaffee und Pain au Chocolat einlegen kann. Ich genieße den ersten Kaffee des Tages, kaufe auf Vorrat ein und weiter geht’s. Es bleibt ungemütlich.

Ich drohe vom Sekundenschlaf übermannt zu werden

Ab 14 Uhr merke ich, dass die „durchzechte“ Nacht ihren Tribut fordert. Ich muss mich ausruhen und meine komplett durchnässten Sachen trocknen. So buche ich ein Hotel in der nächst größeren Stadt: Als ich um 16 Uhr nach 452 gefahrenen Kilometern Avranches erreiche, muss ich die letzten Kilometer schieben. Ich kann meine Augen nicht mehr offen halten. Im Hotel gönne ich mir eine Dusche und lege mich aufs Ohr. Doch die Pause währt nicht allzu lange. Um 19 Uhr geht es weiter, schließlich ist noch nicht aller Tage Abend.

Mont-Saint-Michel und Saint-Malo sind Highlights der Tour

Es wartet eines der großen Highlights dieser Tour auf mich: Der Mont-Saint-Michel!! Schon von weitem zu erkennen. WOW. Ich mache viele Fotos – schließlich bin ich im Herzen nicht nur Racer, sondern auch Radtourist

Abends erreiche ich schliesslich Saint-Malo. Ich bin in der Bretagne angekommen. Mir bleibt erstmal die Spucke weg: Das Blau des wilden Atlantiks in der Abenddämmerung ist wunderschön und die Festungsstadt ist so imposant, dass ich hier unbedingt nochmals herkommen muss!

Mein erster Tag endet schließlich in Comburg. Als ich hier nachts um kurz nach 12 mein Wahoo ausmache, stehen 555 Kilometer, 22 Stunden Fahrzeit mit nem 25er Schnitt auf dem Tacho. Ups.

Race across France Tag 2: Bretagne: die Kühe sind hier weiss statt braun 

Der zweite Tag führt mich durch das Landesinnere von Frankreich. Hier ist weit und breit nix los. Ich erreiche den ersten Checkpunkt in Quelaines-Saint-Gault und hole mir meinen ersten Stempel ab. Auf die Bretagne folgen die Länder der Loire. Der Track führt direkt am Schloss Chambord vorbei, das größte Schloss des gesamten Loiretales.

Meine Schlaf- und Übernachtungsstrategie

Um Gewicht zu sparen habe ich weder Schlaf-, noch Biwacksack noch Isomatte dabei. In diesem Race setze ich voll und ganz auf eine Hotelstrategie. Die wenigen Stunden, die ich schlafe, möchte ich so gut wie möglich schlafen.

Trailangel #1: Der Hotellier Saint Cyr 💚

Da in Frankreich die Rezeptionen nur bis 22 Uhr besetzt sind, rufe ich in jedem Hotel persönlich an. So auch am zweiten Tag im Hotel Saint Cyr, das mitten im Nationalpark „Reserve Nationale de Chasse et Faune Sauvage de Chambord“ liegt. Der Hotelier bittet mich jedoch ein anderes Hotel nehmen. Ich verstehe nicht ganz warum. Als ich ihm erkläre, dass ich beim RAF mitmache und nur ein klitzekleines Mansarden Zimmer ohne Frühstück bräuchte, willigt er schließlich ein und bietet mir ein Zimmer an. Ich solle nachts anrufen, wenn ich vor dem Hotel stehe. Er käme dann. 

Als ich nachts um halb eins ankomme, liegt das Hotel im Dunkeln, im gesamten Gebäude brennt kein Licht. Mit einem mehr als mulmigen Gefühl im Magen rufe ich den Hotelier an und bin mir sicher, dass keiner abhebt. Doch falsch gedacht! 10 Minuten später kommt er angefahren, begrüßt mich herzlichst, schließt sein Hotel auf und macht das Licht an. Nun wird mir klar, was hier los ist: Ich bin der EINZIGE Hotelgast. Der Hotelier hat extra nur für mich sein ganzes Hotel aufgeschlossen!!! Und das nur, weil er selber riesen großer RAF Fan ist und mir unbedingt weiterhelfen wollte. Unfassbar! 

Race across France Tag 3: Jetlag komplett – Mann, bin ich müde!

Leider schlafe ich in dieser Nacht sehr schlecht. Ich höre draußen ein tosendes Gewitter stürmen und Äste durch die Gegend fliegen. Mann, hab ich keinen Bock auf sowas. Regen macht auf Dauer mürbe. Als das Gewitter um halb vier eine Pause einlegt, springe ich nach zwei Stunden Schlaf aus dem Bett, packe meine Sachen und fahre weiter. Ich möchte die Zeit ohne Wasser von oben nutzen, um so weit wie möglich zu kommen.

Das klappt leider nicht so wie gedacht. Der dritte Tag meiner Tour wird ultra zäh. Ich komme  kaum vorwärts, von Flow ist nichts zu spüren. Ich muss mich mehrfach ins nasse Gras an den Strassenrand legen und die Augen zumachen. 

Hinzukommt, dass meine Füsse von den dauerhaft nassen Schuhen angeschwollen sind, die Cleatplatten sind deutlich zu spüren und drücken auf meine Fussballen, die immer empfindlicher werden. Ich kann die Schuhe nicht mehr zu machen. 

Immerhin schaffe ich es  an diesem Tag noch bis an den zweiten Checkpoint in Gueignon und übernachte an diesem Tag nach nur 278 Kilometern und 1.824 Höhenmetern in Charolles.

Race across France Tag 4: Die Col-lection beginnt! 

Während die ersten 1.200 Kilometer des Races noch relativ flach waren, starte ich ab Lyon mit meiner Col-lection, es wird bergig: Col des Einceints, Col de Fosses und Col du Chat. 

Gewitter-Warnung und Entwarnung

Als ich abends um 19:30 Uhr beim Mc Donalds in Aix le Bains sitze und meine E-Mails checke, sehe ich, dass der Veranstalter am Nachmittag zunächst eine Gewitterwarnung heraus- mittlerweile jedoch wieder eine Entwarnung durchgegeben hat. Ich mache mich also auf, den Col de Leschaux zu erklimmen. 

Hagel und strömender Regen. An eine Weiterfahrt ist nicht zu denken!

Um 21 Uhr fängt leichter Niesel an, kurz danach beginnt es so richtig zu schütten und der Himmel verdunkelt sich schlagartig. Aus dem Regen wird schließlich Hagel, dicke Körner knallen von oben herab. Das Wasser, das mir auf der Straße entgegen strömt, ist braun, da sich die Erde zu lösen beginnt. F**k!! Ich stecke voll und ganz im Schlamassel. Ich bin nur noch 300 Höhenmeter vom Pass entfernt, doch den werde ich unter diesen Umständen auf keinen Fall erreichen. Was soll ich tun? Hier ist auch weit und breit kein Unterschlupf mehr!!  Ich komme an eine Kreuzung und sehe etwas weiter unten zwei kleine Häuschen. Mir bleibt nichts anders übrig als beherzt an eine der Türen zu klopfen und das Beste zu hoffen

Trailangel #2: Nathalie 💚

Eine Frau öffnet mir und starrt mich komplett verdattert an. 

Hallo mein Name ist Sara, es tut mir leid, Sie zu stören. Aber ich mache gerade bei einem Rad-Rennen mit, dem Race across France. Ich kann wegen des Unwetters nicht weiterfahren. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich heute Nacht bei Ihnen bliebe? ***Herzallerliebstes Lächeln*** ☺️

Mann, Gott sei Dank hatte ich Franz-LK, sonst hätte ich in dem Moment wahrscheinlich gar nichts mehr rausgekriegt. Die Frau lacht und lässt mich erstmal eintreten, sie kann auch nicht anders, ein komplett begossener Pudel steht vor Ihrer Tür. Das Gute: ich strahle sicherlich nichts Bedrohliches, sondern lediglich Schutzbedürftiges aus. Nathalie und ich machen es uns in ihrer Küche gemütlich, trinken einen Tee und nach einer Dusche schlafe ich in ihrem Gästezimmer überglücklich ein.

Race across France Tag 5 – Checkpoint drei in Megève ist erreicht

Im Morgengrauen erklimme ich beschwingt von diesem Glücksfall den Col de Leschaux. Die Stimmung im morgendlichen Nebel und der guten Luft ist wunderbar. Ich komme schließlich zum Lac d’Annecy, der in der Früh von vielen Rennradlern umrundet wird. Viele von ihnen sprechen mich an und wünschen mir „Bonne Chance“. Mit dem Col de la Colombière erklimme ich den ersten richtig großen Pass. Mit Blick auf den Mont Blanc erreiche ich nur leider viel später als geplant den dritten Checkpoint Megève.

Die Cut off Times sind super hart

Die harten Cut off Times machen das Race across France zu einem sehr anspruchsvollen Rennen. Insgesamt müssen die Fahrer die 2.600 Kilometer und 37.000 Höhenmeter in 10 Tagen bewältigen. Nach 5 Tagen muss Megève, der dritte Checkpoint der Tour, bei Kilometer 1.500 erreicht sein. Danach haben die Fahrer lediglich 48 Stunden Zeit, um es bis in das 552 Kilometer und 15.000 Höhenmeter entfernte Saint-Jeanen-Royans zu schaffen.

Wie soll ich das schaffen? Durch das Gewitter habe ich sehr viel Zeit verloren.

Durch das Gewitter am Col de Leschaux habe ich sehr viel Zeit verloren und kann anders als geplant nur 4 Stunden Zeit rausfahren. In mir macht sich die totale Panik breit. Ob das jetzt noch zu schaffen ist? Ich hab keine Ahnung. Vor mir liegt nicht nur EINE Mammut Aufgabe, sondern gleich MEHRERE: die höchsten Pässe der französischen Alpen, hintereinander gereiht auf der Route de Grandes Alpes.  Da hilft nur noch eins: ab jetzt Vollgas, Schluss mit „luschdig“ und female full force voraus! 😆

Die Route des Grandes Alpes

Meine Festplatte ist gelöscht. Ich hab komplett vergessen, in welcher Reihenfolge welcher Berg erklommen werden muss, Zeit auf meinen Spickzettel zu schauen hab ich auch nicht. Jetzt ist eh schon alles egal. Ich folge stumpf der Linie auf meinem Wahoo und erklettere den Col du Meraillet, den Col de Saisies und den wunderschönen Cormet de Roselend. Ich nehme noch den Anstieg zum Col d’Iseran in Angriff, ruhe mich aber kurz in einem kleinen Chalet vor Val d’Isère aus und schlafe ein paar Stunden. Der fünfte Tag ist mit 217 Kilometern und 5.235 Höhenmetern nicht ohne, und so geht es am nächsten Tag gerade weiter.

Race across France Tag 6: Angst vor einem zweiten Mal Eisregen am Pass

Am nächsten Morgen geht es um vier Uhr los. Um sieben Uhr morgens erreiche ich schließlich den Gipfel des Col de l’Iseran auf 2.770 Metern. Es folgt eine wunderschöne 70 (!) Kilometer lange Abfahrt vom höchsten überfahrbaren Gebirgspass der Alpen bis nach Saint Michel de Maurienne. Im Nieselregen und Nebel steige ich auf den Col du Télégraphe. Oben angekommen schüttet es in Strömen. Ich mache eine Pause im Relais de Télégraf, stopfe 2 Muffins in mich rein und überlege was ich tun soll. Es steht die Auffahrt zum Galibier auf 2.642 Metern bevor, doch das in diesem Regen? Ich hab panische Angst nochmals ein zweites „Teide“ zu erleben. Bei meinem Gran Guanche Audax Road bin ich im Januar diesen Jahres bei 2 Grad und Eisregen auf dem höchsten Berg Spaniens halb erfroren.

Gut ausgerüstet geht es im strömenden Regen auf den Galibier

Ich fahre weiter, Gott sei Dank gibt es in Valloire einen Intersport. Ich stürme den Laden und kaufe eine ultra dicke Wanderregenjacke mit Kapuze und eine Herren-Merino-Unterhose in XXL. Alle anderen Unterhosen sind jetzt im Sommer ausverkauft. 

Im Takt von November Rain von Guns n‘ Roses pedalliere ich im strömenden Regen nach oben. Der Regen prasselt auf meine Kapuze. Das Ganze hat durchaus etwas meditatives und ich kann diese Auffahrt genießen. Um 15 Uhr stehe ich nach unendlich vielen Kehren auf dem Gipfel des Col Du Galibier. 🥳

Ich bin Gott froh um meine dicke Ausrüstung, denn damit bin ich für die Abfahrt über den Col du Lautaret gut gerüstet. Schließlich geht’s nochmal hoch zum Col de Sarenne und von da aus in das ultra hässliche Skiressort Alpe d’Huez, wo meine Etappe endet. 

Race across France Tag 7: Wie soll ich das nur schaffen?

Tag 7 wird der härteste Tag der Tour. Die Uhr tickt, der Countdown läuft, ich muss heute den Checkpoint in St. Jean-en-Royans erreichen. Wenigstens eine Frau muss hier durchkommen. Silvia und Anne haben es leider nicht bis an den Checkpoint in Megève geschafft. Ich fühle mich nicht nur wie das letzte Einhorn auf dieser Erde, sondern jetzt bin ich es auch!

Sara, Du bist die letzte Frau im Rennen! Das musst jetzt aber durchziehen! 🦸‍♀️

Das schreibt mir meine Schwiegerma Monika über What’s App. Ja klar. Würde ich ja gerne, doch wie soll ich das nur schaffen? Um halb drei Uhr morgens sitze ich auf dem Rad, fahre im Dunkeln hinab nach Oz und stehe um sieben Uhr morgens auf dem Col du Glandon. Die gute Nachricht: Das Schlimmste ist schon überstanden –  bilde ich mir ein. Danach folgen „nur“ noch kleinere Pässe um die 1.000 Meter. Die Fahrt bleibt aber anstrengend, da der Track neben diesen Cols auch noch durch das zackige Bergland östlich von Grenoble führt.

Trailangel #3: Vincent 💚

In Grenoble angekommen mache ich mich mit allerletzter Kraft auf zum letzten Anstieg des Tages: Es geht 800 Höhenmeter nach Saint-Nizier du Moucherotte hinauf. Ich bin dazu verleitet aufzugeben und mir ein Hotel zu nehmen. Sch*** drauf! Doch als ich die letzte Kurve erklimme, sehe ich einen mir Unbekannten am Strassenrand stehen, applaudieren und laut rufen: „Allez, allez, Sara, Du hast es bald geschafft! Nicht mehr weit!!!“  Äh, gibt’s hier noch ne andere Sara? Ich dreh mich rum, aber nein, der meint ja mich! Ich halte an. 

Vincent, ein RAF Fan, wohnt hier und feuert alle Radler an, die vorbeikommen

Er beobachtet das Rennen und folgt den Dots auf der offiziellen Renn-Website. Er erklärt mir, dass wir hier genau auf der 2.000 Kilometer Marke stehen. Bis nach St. Jean bräuchte ich es nur noch runterrollen lassen. Und das würde ich jetzt auch noch hinkriegen. Von Fremden angefeuert werden – that’s the spirit hier in Frankreich und gibt mir einen ordentlichen Push, um das hier durchzuziehen! 

Es folgt eine 50 Kilometer Abfahrt durch die imposante Gorge de la Bourne im wunderschönen „Parc Naturel Regional du Vercors“. Ich erreiche im Stockdunkeln nach 266 Kilometern und 5.398 Höhenmeter den vierten und wichtigsten Checkpunkt der Tour

Der Veranstalter hat aufgrund des Unwetters die Cut off Times leicht nach hinten verschoben. Und ich? Ich hab‘s gepackt, ich bin immer noch im Rennen und freu mich wie eine Schneekönigin, unfassbar! 🥳

Race across France Tag 8: Das eine Wetterextrem folgt dem anderen

Am nächsten Morgen wartet der Col de la Machine auf mich, neben dem Cormet de Roselend der schönste Anstieg der ganzen Tour. 

Auf der Abfahrt duftet es unbeschreiblich gut: Ich kann den Lavendel riechen noch bevor ich ihn sehen kann. Ich bin in der Provence angekommen. 

Südfrankreich leidet unter einer enormen Hitzewelle

Leider löst das eine Wetterextrem das andere ab. An Radfahren ist bei 42 Grad am Nachmittag nicht mehr zu denken. Es wird schliesslich 19 Uhr bis ich endlich in Malaucene am Fusse des Ventoux ankomme. Ich bin fertig von der Hitze. Die Bündchen meiner Radhose schnüren mir das Blut in meinen Beinen, die mittlerweile zu Elefantenfüssen angeschwollen sind, ab. Aufgrund der Hitze ist mein Salzhaushalt durcheinander und ich hab am ganzen Körper Wasser eingelagert.

Soll ich oder soll ich nicht? Mont Ventoux bei Nacht

Ich mache Pause in Malaucene, trinke zwei Cola, esse zwei Pain au Chocolat und schneide meiner super teure Radhose an den Bündchen auf. Autsch!! Da blutet das Schwabenherz! 

Ich bin unsicher, ob ich den Giganten der Provence an diesem Abend noch erklimmen soll oder nicht. Ich treffe auf drei andere Fahrer, die mich ermutigen, weiterzufahren. Dann sei auch das letzte Hindernis geschafft und ich sei ein schneller Kletterer. Na gut. Ich beginne in der schönsten Abendsonne mit dem Aufstieg. Die Poller zeigen mir an, wie weit es noch nach oben ist. 

Es wird dunkel, als ich um kurz vor 22 Uhr an der Station du Mont Serein vorbeikomme, ein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Von da aus sind es zwar nur noch wenige Kehren bis nach oben. Aber an der Baumgrenze werde ich vom Wind schier weggefegt und es ist stockdunkel. Der Turm des Mont Ventoux ragt bedrohlich über mir. 

Als ich den Gipfel erreiche, finde ich das Passschild nicht. Doch Zeit um es zu suchen bleibt nicht. Ich stehe mutterseelenallein hier oben. Ich ziehe mich warm an und mache mich auf die Abfahrt – mit angezogener Bremse und einem Fuss aus dem Pedal, um die Windböen so gut es geht abzufedern. Langsam tuckere ich hinab und bin heilfroh, als ich meinen Schlafplatz in Saint-Colombe mitten in der Nacht erreiche.

Race across France Tag 9: Dream on, Dream on, Dream on!!

Nach diesen acht brutalen Renntagen, die von mir wirklich alles gefordert haben und bei denen ich wirklich alles gegeben habe, nehme ich am letzten Tag einen Gang raus. Ich bin Last Women Standing und weiss, dass ich es schaffen werde. Ich möchte die letzten, mir verbleibenden 313 Kilometer und 4.280 Höhenmeter und das, was Frankreich mir auf dieser finalen Etappe zu bieten hat, geniessen und nicht total fertig im Ziel ankommen.

Es kommt nicht nur darauf an, DASS Du ein Ziel erreichst, sondern auch WIE Du ein Ziel erreichst.

Ich werde nicht enttäuscht: Ich schaue und staune bei meiner Fahrt durch die atemberaubende Gorge de la Nesque, gefolgt von der Gorge du Verdon. Der schönste Canyon Europas, dessen türkisblaues Wasser in der Abendsonne glitzert, trägt die besondere Auszeichnung „Grands Sites de France“. Ich bin unendlich dankbar, das erleben und sehen zu dürfen – bevor der Klimawandel all das zunichte macht.

Am Abend mache ich nochmals kurz auf einem Campingplatz Halt. Anstatt zu pushen und bis ins Ziel durchzudrücken, lege ich mich nochmal kurz aufs Ohr. Ich möchte die letzte Abfahrt unbedingt im Hellen fahren, damit ich die Hand von der Bremse nehmen, den Wind im Gesicht spüren und es voll laufen lassen kann. Dieses Vergnügen habe ich mir verdient. Um halb 5 in der Früh stehe ich noch im Dunkeln auf dem Col de St. Barnabé und wie geplant im Morgengrauen auf dem letzten verbleibenden Col, dem Col de Castellaras.

„Oh, sing with me, sing for the year

Sing for the laughter, and sing for the tear

Sing it with me, if it’s just for today

Maybe tomorrow, the good Lord will take you away”

Mit Aerosmith „Dream on“ im Ohr und dem Mittelmeer im Blick rausche ich von da an 55 Kilometer hinab in die Tiefe. Ich flitze um die Kurven und lasse es laufen: Die Räder, die Freuden-Tränen und bin wenig später als einzige Frau und Gewinnerin des Race across France in Mandelieu im Ziel.🥇

Race across France – Statistiken & Fahrtauswertung

Da mich so viele von Euch gefragt haben kommen hier ein paar Key Daten (siehe STRAVA) zu meinem Race Across France:

  • Gesamtkilometer: 2.599 km
  • Höhenmeter: 36.526 hm
  • Fahrtzeit: 136:14 Stunden
  • Geschwindigkeit: 19,11 km/h
  • Gesamtzeit: 229:45 Stunden
  • Zeit für Schlaf: ca. 48 Stunden
  • Zeit für Rast: ca. 45 Stunden

Race across France – Fazit

Wow. Das Ding war echt eine Nummer, von 131 Startern sind weniger als die Hälfte im Ziel angekommen. Das Race across France war sowohl körperlich als auch mental ein hartes Rennen. Ich hatte mit fiesen Wetterkapriolen, Dauerregen und Ultra-Hitze, geschwollenen Beinen und tauben Fingern zu kämpfen. Auch nach dem dritten Checkpunkt in Megève weiterzufahren, obwohl die Aufgabe auf den ersten Blick aussichtslos erschien, war mental alles andere als einfach. 

Die genannten Strapazen sind schnell vergessen. 

Was absolut überwiegt, ist ein Gefühl des inneren Reichtums, das noch lange nachwirken wird

  • Ich habe in nur neun Tagen so viel von diesem tollen Land gesehen hab, wie wenig andere Leute (Speed-Sightseeing nennt sich dann sowas 😉).  
  • Ich komme mit so vielen tollen Anekdoten von dieser Reise zurück: wer kann von sich schon behaupten, nachts auf dem Ventoux und im strömenden Regen auf dem Galibier gestanden zu haben, an fremden Türen geklingelt und gegen die Wand, äh den Wind am Atlantik angetreten zu sein?  

Ich freu mich natürlich, dass ich diese schwere Route geschafft hab und sich damit mein Training voll und ganz gelohnt hat (best coach ever: Jas 🚀). Stolz bin ich aber nicht wegen meiner Leistungsdaten, sondern weil ich nicht aufgegeben hab

Was aber hat mich angetrieben? 

  • Zum einen wollte ich unbedingt, dass wenigstens eine Frau dieses Rennen schafft und es nicht heißt: Le RAF, c’est trop dur pour les femmes! Das RAF ist zu anspruchsvoll für die Mädels. Auf gar keinen Fall!!
  • Zum anderen hat mich eine zutiefst empfundene Dankbarkeit bis ins Ziel getragen. Ich wollte Nathalie, Vincent, dem Hotelier zeigen, dass sich ihr Bemühen um mich auf jeden Fall gelohnt hat. DANKE auch an die vielen freiwilligen RAF Helfer an den Checkpunkten, ihr seid großartig 💚

Alles was ich über Ultra Racing weiss und auch meine Fitness hab ich mir in den letzten beiden Jahren antrainiert. Davor hatte ich nicht viel mit Ausdauersport zu tun. Ich komme nicht vom Laufen oder vom Rudern, sondern vom Reiten. 

Dieser Sieg ist deshalb vor allem ein Beispiel dafür, dass es nicht drauf ankommt WO Du herkommst, sondern nur WER Du sein willst. 

In diesem Sinne: Allez, allez!


STOP! Hast Du Fragen zum Race across France und gibt es noch etwas, das Dich interessiert? 👉Bevor Du weiter klickst würde ich mich RIESIG über einen Kommentar von Dir freuen. Danke Dir und mach’s gut! 🤗

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12 comments

Benjamin 15. September 2022 - 18:07

Toller Bericht über deine grandiose Leistung. Für mich war das eine Inspiration für mein nächstes Projekt auf dem Fahrrad. Ich will nächstes Jahr unbedingt ein unsupported Rennen bestreiten.

Reply
Sara Hallbauer 19. September 2022 - 7:45

Hallo Bejamin,
danke Dir! Freut mich wenn Dir der Bericht gefällt.
Meine Bikepacking Event Liste ist zwar noch nicht mit den Daten aus 2023 aktualisiert aber vielleicht findest Du da ja ein Event, an dem du teilnehmen möchtest: https://www.bikepackers.de/bikepacking-events-2022/
Viele liebe Grüße und bis zum nächsten Event,
Sara

Reply
Anne Blewett 22. August 2022 - 8:59

Well done Sara, you were incredible x

Reply
Sara Hallbauer 23. August 2022 - 8:50

Anne – you were incredible. And thanks again for the best part of the story: our celebration dinner at the beach 😘

Reply
Bella 22. August 2022 - 8:45

Sara! It was so inspiring to watch your dot move along the map as you showed so much grit, determination and mental fortitude to persevere. So many times when it seemed the race wanted to close its doors on you, you showed it who was boss! Women cyclists CAN do this and you showed the way! I am so immensely proud of what you have achieved- you are AWESOME! Thank you for sharing your full account of your RAF – and also for continuing to inspire me. Bella 🙂

Reply
Tamara 22. August 2022 - 16:50

Gratulation zu diesem sensationellen Erfolg! Was für ein toller Reisebericht, der zu neuen Abenteuern inspiriert und motiviert! 🤩

Reply
Sara Hallbauer 23. August 2022 - 8:49

Danke Dir Tamara, freut mich wenn es so ankommt, denn das ist auf jeden Fall Sinn und Zweck der Sache 🙂

Reply
Sara Hallbauer 23. August 2022 - 8:51

Thanks for cheering Bella!!! Your words are super motivating and giving me always a big push to carry on. I love you for that ❤️

Reply
Erich 18. August 2022 - 10:43

Fetten Respekt, was für eine Leistung. Dein „Reisebericht“ liest sich spannender als ein Krimi. Aus Erfahrung muss ich richtig mitleiden, aber nur die Harten kommen in den Garten. Congratulations

Reply
Sara Hallbauer 21. August 2022 - 21:34

hi Erich, DANKE Dir!! Ja, nur die Harten kommen in den Garten, stimmt schon…Wobei in mir echt zwei Herzen schlugen: Racer und Radtourist, denn die Strecke war echt der Oberknaller 😍
Lieben Gruß 🙂
Sara

Reply
Anja 22. August 2022 - 17:03

Danke für den tollen Bericht, Sara. Was für eine starke Leistung.

Reply
Sara Hallbauer 23. August 2022 - 8:48

Danke Dir Anja 🙂

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